“Ich liebe dieses Land” – La lettre de Vaterstetten n°8

Es ist bedauerlich festzustellen, dass französische und deutsche Journalisten und Schriftsteller dazu neigen, ihr jeweiliges Nachbarland zu kritisieren. Mit Ironie und in einem humorvollen Ton werden bestimmte nationale Besonderheiten seltsam dargestellt, als ob sie einer anderen Zeit angehören oder sogar lächerlich sind. Die Bücher des Engländers Peter Mayle über den Süden Frankreichs, die wir im Ausland amüsant fanden, aber die Franzosen weniger zum Lachen bringen, sind die besten Beispiele dafür. 

Ich möchte daher das Gegenteil dieser Veröffentlichungen tun und beispielsweise einige Dinge hervorheben, die meiner Meinung nach in Frankreich gut gelöst und fortschrittlich sind, manchmal sogar besser als in Deutschland. 

Warum erzähle ich das in einem Brief an die Franzosen? Unsere französischen Freunde entdecken so die Unterschiede zu Deutschland. Außerdem wird der Brief auch von vielen deutschen Mitgliedern des Vereins gelesen, sodass alle davon profitieren können.


Kampf gegen Lebensmittelverschwendung:

In Frankreich dürfen Supermärkte essbare Lebensmittel nicht mehr wegwerfen, sondern müssen sie an Lebensmittelbanken oder bedürftige Menschen spenden. Dieses Verbot wird von Steuererleichterungen begleitet und funktioniert nur so. 

In Deutschland existiert ein solches Verbot noch nicht. Wenn jemand jedoch diese noch verzehrbaren Lebensmittel aus einem Müllcontainer nimmt, wird er sogar des Diebstahls beschuldigt. 


Handwerker und Mehrwertsteuer:

Wer hatte noch nie mit einem Handwerker zu tun, der nach Abschluss der beauftragten Arbeit fragt: “Brauchen Sie eine Rechnung?” Dabei handelt es sich um einen doppelten Steuerbetrug: Die Mehrwertsteuer wird nicht gezahlt, und der Handwerker meldet dieses Einkommen nicht in seiner Steuererklärung. 

Man “spart” zwar die 20% Mehrwertsteuer, aber man hat auch keine Rechnung für Garantiefälle. In Frankreich wurde eine einfache, aber effektive Regelung zur Bekämpfung dieser Schwarzarbeit eingeführt. Für Arbeiten im Haus und Garten beträgt der Steuersatz 10% oder 5,5% (für arbeitsbezogene Energiewerke) anstelle von 20%. Für den Kunden ist es daher kaum interessant, auf eine Rechnung zu verzichten, angesichts der genannten Nachteile, und seriöse Unternehmen werden belohnt.


Abfallwirtschaft:

Ich erinnere mich noch an die großen öffentlichen Mülltonnen, in die alles ohne Unterscheidung geworfen wurde, um dann auf riesigen Mülldeponien entsorgt zu werden. Das ist Vergangenheit. Die Abfalltrennung ist nun sehr fortgeschritten, aber das Pfandsystem, das wir in Deutschland kennen, existiert nicht bei unseren Nachbarn jenseits des Rheins. Bei uns handelt es sich um ein riesiges bürokratisches Monster, das einigen zugutekommt. Die Wiederverwendung von Plastik- und Glasflaschen, die eigentlich leicht recycelbar sind, erfordert eine aufwendige Verwaltung, Reinigung und Transport, was die möglichen Vorteile des deutschen Mehrwegsystems relativiert. 

Noch eine Anmerkung zu Strandabfällen: “Nehmen Sie nicht nur Ihren Sonnenbrand mit, sondern auch Ihren Müll.” Solche Schilder wurden zum Beispiel an den großen Sandstränden von La Grande Motte installiert, und die regelmäßig überquellenden Mülleimer wurden entfernt. Das Ergebnis: Der Strand ist sehr sauber!


Nationale Identität:

Die Franzosen haben immer noch das Gefühl, zur großen Nation zu gehören, auch wenn dieser Begriff auf eine ferne Zeit verweist… Dieser Stolz und dieses Identitätsgefühl sowie einige andere Themen werden nicht in Frage gestellt. 

Ein Franzose ist zuerst Franzose, er ist patriotisch und zeigt uneingeschränkte Loyalität und Solidarität gegenüber seinem Staat (nicht unbedingt gegenüber seiner Regierung). Die zahlreichen und häufigen Demonstrationen und Streiks, obwohl oft hart, stellen die Nation nicht infrage. 

In Deutschland haben wir lange nach unserer Identität gesucht oder suchen noch immer danach. Aufgrund unserer Vergangenheit wird ein deutscher Präsident niemals seine Rede mit “Es lebe Deutschland” beenden, während der Satz “Es lebe Frankreich” nach jeder französischen Präsidentenrede völlig normal und angemessen erscheint. 


Umweltschutz:

  1. In der Camargue, in der Nähe von Aigues-Mortes und Le Grau-du-Roi, gibt es viele flache Gewässer, die von Flamingos frequentiert werden. Aber an einigen Seen wurde die Präsenz dieser wunderschönen Vögel seit einigen Jahren immer seltener. Es wurde entdeckt, dass das Wasser durch die vielen heimlich und illegal entsorgten Abfälle kontaminiert und ungenießbar war. Das Wasser wurde zunächst gereinigt und dann streng überwacht, was es der Flamingopopulation ermöglichte, sich wieder zu erholen. Heute sind sie wieder Teil der Seelandschaft dieser Region und es ist großartig, sie dort bewundern zu können. Es ist also möglich, wenn man es wirklich will. 
  2. Um die CO2- und Feinstaubemissionen von Personenkraftwagen besser zu verwalten und zu kontrollieren, wurde in Deutschland eine Umweltplakette eingeführt. Sie ist grün mit einer großen 4 (?) und wird praktisch auf jedes moderne Fahrzeug geklebt, egal ob Diesel oder Benzin. Eine Unterscheidung ist kaum noch möglich. 
  3. In Frankreich gibt es seit kurzem die Crit’Air-Vignette mit 5 Stufen/Farben je nach Verschmutzungsgrad. Dadurch können Städte klare und verständliche Zugangsregeln und Fahrverbote festlegen. 

Autorität:

Früher hatte ich viele, manchmal mehr oder weniger eigenartige Kontakte mit Behörden. Heute läuft fast alles online ab: Zulassungen, Steuern, Führerscheine, verschiedene Anträge… Manche einfache Anträge gelten automatisch als genehmigt, wenn man innerhalb einer bestimmten Frist keine Antwort von der Verwaltung erhalten hat. 

Für alles, was Kinder und Familie betrifft, ist nur eine Behörde zuständig, die CAF. Sogar Angela Merkel hat dieses Beispiel im deutschen Parlament als Vorbild genannt, zum Ärger ihrer Freunde in der deutschen konservativen Partei. In Deutschland gibt es immer noch unterschiedliche zuständige Behörden auf Landes- und Bundesebene, daher ist es für junge Eltern oft unklar, wohin sie sich wenden sollen. 


Telefon:

Neben etablierten Unternehmen gibt es auch neue Anbieter, die etwas bewegt haben. In unserem Ferienhaus in der Nähe von Nîmes zahlen wir 34€ pro Monat für Telefon, Internet und Fernsehen, einschließlich Anrufe in alle Netzwerke in Frankreich und Anrufe auf Festnetzanschlüsse in über 100 Ländern. Außerdem wird eine SIM-Karte für Mobiltelefone kostenlos angeboten. In Deutschland können wir von solchen Tarifen nur träumen und auf die Ankunft des Anbieters FREE warten. 

Kürzlich hat mir France Télécom angeboten, Glasfaser zu installieren. In Deutschland sind damit einige Kosten und komplexe Anträge verbunden, daher war ich anfangs skeptisch gegenüber dieser Installation in Frankreich. “Nein, nein, die Installation ist kostenlos und der bestehende Tarif ändert sich nicht!” 

Gesagt, getan. Nach einigen Wochen war alles installiert, wie versprochen. Jetzt haben wir eine Download-Geschwindigkeit von 228 Mbit/s und eine Upload-Geschwindigkeit von 271 Mbit/s. Die Spezialisten unter den Lesern werden dies mit Erstaunen und Ungläubigkeit zur Kenntnis nehmen.


Verkehr:

Vor einigen Jahren verzeichnete Frankreich traurige Rekorde bei Verkehrstoten. Sarkozy, damals Innenminister, führte strenge Geschwindigkeitsregeln ein, die Kontrollen sind zahlreich und Verstöße werden streng bestraft. Es hat einige Zeit gedauert, aber die meisten Franzosen halten sich nun daran, und Alkohol am Steuer wird nicht mehr als Bagatelldelikt betrachtet. Die Zahl der Verkehrstoten ist trotz des gestiegenen Verkehrsaufkommens deutlich gesunken. Leider ereignen sich, wie auch in Deutschland, die meisten Unfälle nicht auf Autobahnen, sondern auf Land- und Kreisstraßen. 

Es folgen noch einige Ergänzungen, die es nicht mehr in den schon verteilten Lettre #8 geschafft haben.
Die Informationen sind den Franzosen schon bekannt, deshalb sind die folgenden Texte nur in deutsch auf dieser Website.

Photovoltaique über Parkplätzen

Seit Januar 2023 gibt es eine Vorschrift alle Parkplätze mit über 80 Plätzen mit PV zu überdachen.
Neben der Energiegewinnung hat es den Vorteil, den Flächenbedarf für PV zu reduzieren und die PKWs gleichzeitig zu schützen.

Das ist keine wachsweiche “Empfehlung” wie in Deutschland üblich, sondern ein Gesetz. Neubauten müssen es gleich installieren, für bestehende Anlagen sind die Zeiten gestaffelt. Bei Nichteinhaltung sind bis zu 40.000€ Strafe jährlich fällig. Die künftige PV-Kapazität übersteigt die von 10 Kernkraftwerken. 

Kindergeld etc.

Frankreich und Deutschland geben für Kinderabsicherung/Betreuung bezogen auf das Bruttosozialprodukt etwa gleich viel Geld aus.
In Deutschland fließen 60% davon nur ins Kindergeld (mit Geld fängt man Wähler), was aber nicht immer bei den Kindern landet.

In Frankreich gibt es weniger Kindergeld, dafür werden 60% des Budgets für Verbesserung der Infrastruktur ausgegeben:
Mehr Kita-Plätze und Horte, Gutscheine(kein Bargeld) für Ferienlager, Musik- und Sportkurse und  Anschaffungen.
Dies sind nachhaltige Investitionen und Subventionen, die gezielt den Kindern zugutekommen.

Noch mehr zu Kindergeld etc.

Die CAF (ein Glücksfall für Frankreich) errechnet und zahlt automatisch (ohne Antrag) neben dem Kindergeld viele weitere Vergünstigungen für Familien mit Kindern. Fast alle sind nach Einkommen und Zahl der Kinder pro Familie gestaffelt.

Für das erste Kind gibt es erst Kindergeld, wenn das zweite geboren ist.
Kindergeld gibt es nur bis 16 Jahre und nur so lange zwei Kinder unter 16 Jahre sind. Für sozial kritische Situationen gibt es entsprechende Ausnahmen/Sonderregelungen.

Es gibt u.a. Unterstützung von familiärer Betreuung, Kindermädchen, Kindergarten, Einschulung, Umzug, Todesfall und einiges mehr.

All diese Beträge sind nicht fix, sondern richten sich prozentual nach einem offiziellen Familienrichtwert BMAF, der jährlich neu bestimmt wird.
Wenn dieser Richtwert erhöht wird, dann erhöhen sich auch alle relevanten Unterstützungsbeiträge. Das ist ein gut überschaubares, verständliches System, dass es für Familien und für den Staat einfach macht, die Einnahmen und die Ausgaben zu berechnen und vorauszusehen.

In Deutschland dient das Kindergeld als soziales Feigenblatt für wichtige Versäumnisse.
Andere kinderrelevante Zuschüsse bleiben entweder jahrelang unverändert oder müssen jährlich einzeln nachberechnet, von Parlamenten bestimmt und zugeordnet werden.
Nach dem Beispiel von CAF-Frankreich könnte auch bei uns der Finanzminister viel Geld sparen -ohne soziale Härten- und die Verwaltung konnte vereinfacht und übersichtlicher werden.   

Umweltschutz und Flüge

In der Vergangenheit haben  viele Deutsche die vermeintlichen Umweltsünden der Franzosen gerügt bzw. ironisch kommentiert.
Bei der notwendigen Realisierung von Verbesserungsideen sind uns die Franzosen inzwischen vielfach voran. Einige Beispiele habe ich schon genannt.

Seit einiger Zeit sind Kurzstrecken-Flüge verboten, wenn die gleiche Strecke in 2,5 Stunden mit der Bahn bewältigt werden kann.
Der TGV fährt in weniger als drei Stunden von Nimes nach Paris Stadtmitte oder Paris Airport ! Marseille -> Paris etwas mehr als drei Stunden.